Institut für Elebnispädagogik
Meine sehr verehrten Damen, meine Herren!
 

Nichts interessiert weniger als die Schlagzeile von gestern — und wen, so könnte man anschließend fragen, interessieren gar Titelbilder aus vergangenen Jahren?

 

Wie falsch diese Frage jedoch ist, offenbaren die insgesamt über 3.000 Abbildungen der SPIEGEL-Cover, wie sie für diese Ausstellung, von der hier und heute nur ein Ausschnitt gezeigt wird, zusammengetragen wurden.

 

Bestechend ist neben der Quantität, die den Besucher ja fast erschlägt, vielmehr die Qualität der Bilder, Collagen, Fotos, Kunstobjekte, Karikaturen und mancher beachtenswerter Farbsinfonien, mit denen man konfrontiert wird. Beeindruckend sind Vielfalt und Ideenreichtum, wie sie bei einer klargestellten gestalterischen Aufgabe das markieren, was — je nach Titelgeschichte und Heftinhalt — journalistisch unterstrichen werden soll. Ein Titelbild muss Aufmerksamkeit erzeugen, muss auf ein Thema neugierig machen und es soll allgemein verstanden werden. Gebrauchsgrafik nennt man das, was einem bestimmten Zweck dienen soll und mit bildnerischen Mitteln betont wird. Schauen Sie aber genauer hin, so wird der Zweck sicherlich erfüllt, was sich nicht zuletzt auch in den Absatzzahlen — also dem wirtschaftlichen Erfolg des Nachrichtenmagazins — widerspiegelt.

 

 

Gleichwohl sprengen viele Titelbilder das Klischee bloßer Produktwerbung: Der künstlerische Spielraum wird voll genutzt, ja, international bekannte Künstler werden regelmäßig aufgefordert, wirken mit — und müssen sich dann auch noch gefallen lassen, dass ihr Werk verändert, manipuliert und dem Gesetz der Berichterstattung, also dem Willen der Titelbildredaktion unterworfen wird.

 

Was das heißt und wie das konkret aussieht, wurde in einer anderen Ausstellung präsentiert, die 2005 in Hamburg eröffnet, in Berlin, Frankfurt, Düsseldorf, Stuttgart, Saarbrücken, Basel, Wien und New York gezeigt wurde und zurzeit in Bonn (Museum der deutschen Geschichte) für Aufsehen sorgt: "Die Kunst des SPIEGEL — The Art of DER SPIEGEL".

 

 

Im Hamburger Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL gestaltet Woche für Woche ein kleines aber schlagfähiges Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter der umsichtigen Leitung von Stefan Kiefer eine Vielzahl möglicher Titelbilder für die jeweils nächste Ausgabe. Nur eins davon wird veröffentlicht und leuchtet uns dann am Kiosk entgegen.

 

Was da hinter den Kulissen entworfen und verworfen wird, was da entsteht und wieder eingestampft wird, was da profiliert und ausgefeilt, dann aber der plötzlichen politischen Aktualität geopfert werden muss, das war ebenfalls in früheren Jahren schon Gegenstand von Ausstellungen: "Die Unveröffentlichten — 271 SPIEGEL-Titel aus 1993" (Museum für Kunst und Gewerbe in Hamburg und Münchner Stadtmuseum in Bayern).

 

Politische Grafik ist eine Kategorie — man denke beispielsweise an die bissigen Plakate, mit denen der Heidelberger Künstler, Klaus Staeck, nicht nur die Gemüter von Politikern sondern auch unser Lieschen Müller in Castrup-Rauxel bis zur Weißglut erhitzte —, Politische Grafik fand in Museen und Sammlungen Eingang (man denke beispielsweise an die internationale "documenta" in Kassel). Auch so manches SPIEGEL-Cover fand Eingang in die Kunsthallen und Kulturpaläste.

 

Bei der wirksamen Kombination der Motive (die allerdings stets dem gesellschaftskritischen und politischen Diktat der Redaktion unterworfen sind) kommen den Gestaltern neue Bildtechniken zugute. Waren es anfangs Schwarz-Weiß-Fotos von Repräsentanten der damaligen Zeitgeschichte, kam später dann Farbe ins Spiel, wurde dann mit Collagen, Zeichnungen und Fotomontagen experimentiert, so verschwinden heute mehr und mehr die starren und tradierten künstlerischen Techniken. Der Computer ermöglicht heute einen nahezu uneingeschränkten Umgang mit Bildvorlagen (z.B. Fotos), die eingelesen, digitalisiert und verarbeitet werden. Die Bildauflösung, die Farbwiedergabe — wegen der beabsichtigten Signalwirkung eher grell — und die unbegrenzten Möglichkeiten der Manipulation von Fotomaterial ist zu einer erstaunlichen Perfektion gediehen. Die Skala weiterer Entwicklungsmöglichkeiten dürfte nach oben offen sein (ähnlich der Richter-Skala, die man zur Messung von Erdbeben benutzt).

 

Diese künstlerischen Dimensionen waren aber nicht Ausgangsmotiv und Grundidee bei der Entwicklung dieser Ausstellung.

 

Als ich die Ausstellung 2001 in Lüneburg konzipierte, hatte ich Studentinnen und Studenten als Adressaten im Blick. Es war nicht mehr zu übersehen, wie gering der Wissensstand auf dem Hintergrund von Geschichte, Politik, Gesellschaft und Kultur — national und international — war.

  • Schon die Frage, wie hieß der Bundeskanzler vor Dr. Helmut Kohl, verunsicherte;
  • wer Dr. Marion Gräfin Dönhoff war, konnte nur ausnahmsweise beantwortet werden (obwohl diese gerade verstorben war und sich Hinweise auf Leben und Werk in allen Medien in Hülle und Fülle fanden).

So nannten wir die Ausstellung "DER SPIEGEL und ich". Die jugendlichen Besucher sollten anhand der Cover prüfen, wann ihr gesellschaftspolitisches Bewusstsein erwachte, ob es Ereignisse gab, die der Erinnerung entlockt werden können.

 

Die Spiegeltitelbilder schienen besonders geeignet, individuell zu objektivieren, wie es um mich steht,

  • um meine Bereitschaft
    • zur Beteiligung und Partizipation,
    • zum Mitdenken und Nachdenken;

  • um meine Kritikfähigkeit,
    • die gesichertes Wissen voraussetzt, um Meldungen und Meinungen realistisch einordnen und beurteilen zu können,
    • die mich bewahren kann, von fremden Interessen vereinnahmt zu werden,
    • die die Voraussetzung ist, um ein mündiger Staatsbürger zu werden.

Die Ausstellung "DER SPIEGEL und ich" gab viele Denkanstöße, regte an und regte auch auf und belebte die verkarstete Bildungslandschaft.

 

 

Jetzt heißt die Ausstellung "Zeitgeschichte im SPIEGELbild". Und unter diesem Titel reist sie durch Deutschland, war bisher in Hamburg, Berlin, Neubrandenburg, Halle / Saale und Ingolstadt zu sehen.

 

Damit wird auch der älteren Generation Referenz erwiesen: Menschen, die älter als 60 sind, haben zu Staat und Gesellschaft ein anderes Verhältnis als die Youngster und Kids. Dieser Generation steckt der II. Weltkrieg noch in den Knochen. Flucht, Zerstörung, Verlust, Tod und Entbehrungen begleiteten die prägenden Jahre von Kindheit und Jugend unmittelbar oder mittelbar.

 

Danach waren Wiederaufbau und — im Westen — das legendäre "Wirtschaftswunder" angesagt.

 

Mit dem jeweils eigenen, persönlichen, biografischen Hintergrund wird die Welt mit allen ihren Ereignissen höchst unterschiedlich und individuell interpretiert.

 

"Zeitgeschichte im SPIEGELbild" meint nicht die Aufforderung zum akademischen Diskurs; nicht der zu interpretierende Text steht im Mittelpunkt, sondern das Bild — auch nicht das Bild als Dokument von historischen Ereignissen, sondern das Bild als An- und Aufreißer, als Verfremdung, als Karikatur, als Collage, Montage, ja sogar als spektakuläre Abstraktion und eben auch als Kunstwerk.

 

"Zeitgeschichte im SPIEGELbild" konfrontiert Sie

  • mit den Nackten und den Wohlhabenden,
  • mit den Schwarzen, Gelben, Roten und Weißen,
  • mit Gaunern und Ganoven (mit und ohne "weiße Kragen"),
  • Mit Heiligen und Scheinheiligen,
  • mit Licht und Schatten,
  • mit Krieg und Frieden,
  • mit Arm und Reich,
  • mit Lug und Trug,
  • mit allen erdenklichen Schönheiten und Hässlichkeiten hier und dort, gestern, heute und morgen, in Nord, Süd, Ost und West.

Der liebe Gott hat in seiner einmaligen Schöpfung — wohl aus Gründen höherer, uns bislang nicht zugänglicher Vernunft — den Spiegel vergessen (es sei denn, Sie schauen bei relativer Windstille und ausreichender Helligkeit in einen See oder eine Pfütze, aber wer tut das schon ?). Vielleicht basiert dies "heilige Versäumnis", dieses Schöpfungsdefizit darauf, dass der Mensch dem Menschen zum Spiegel werden soll. Und in der Tat, (fast) alles, was wir von uns wissen, wissen wir von anderen: Mutter, Vater, Geschwistern am Anfang, Freunde später, Geliebte, Kollegen und Wegbegleiter danach.

 

Das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL unterstützt und flankiert diesen individuellen Reflexionsprozess:

  • der Horizont wird erweitert,
  • der Blick über den eigenen und nationalen Tellerrand darf gewagt werden,
und gleichzeitig werden die "Bausteine" der Persönlichkeit tüchtig bewegt:
  • Wann schmunzeln wir, wann lachen wir, was erfreut uns ?
  • Kommt Missmut auf ?
  • Gibt es in uns (noch) das Gefühl von Mitleid ?
  • Wie steht es mit den Gefühlen von Trauer, Gerechtigkeit, Hoffnungen und Angst ?

Armes Deutschland, das Du von millionenfachen "Ich-AGs" träumst !

 

Arme Bürger, die sich nur noch selbstbeglückt, event-begeistert und spaß-gejagd bis zum Umfallen um die eigene Achse drehen !

  • Wenn soziale Vernunft, individuelles Gewissen und letztlich humane Philosophie — mehr und mehr — versanden,
  • wenn das Ich im Du und das Du im Wir nicht mehr gesucht und auch gefunden wird,
dann ist es gut, dass es zeitkritische, mutige, ernsthafte und selbstbewusste Journalisten gibt, die uns den Spiegel vorhalten, die uns immer wieder zwingen und in den Bann ziehen, hin- und nicht wegzuschauen. Denn wer hinguckt, wird mit Bildern konfrontiert, die etwas anrühren und bewegen.

 

Von der großen Bedeutung der Bilder wissen wir:

  • in der frühen Kindheit spielen Bilder-Bücher eine entwicklungspsychologisch große Rolle;
  • in der Kulturgeschichte hat die Malerei ihren herausragenden Stellenwert.

Und wer die — besser seine — Zeitgeschichte in den wachen Blick nimmt, wird auf Spiegelbilder nicht verzichten wollen.

 

Meine Studierenden und ich konnten den SPIEGEL-Machern über die Schultern gucken und waren beeindruckt, mit welchem handwerklichen Geschick, politischem Bewusstsein Woche für Woche der Aktualität Wort, Bild, Perspektive und letztlich Sinn gegeben wird.

 

Wir waren beeindruckt über die Flexibilität: die Zahl der unveröffentlichten Cover-Entwürfe übersteigt die der gedruckten bei weitem.

 

Auch ästhetische Überlegungen werden — Tag für Tag — angestellt:

  • von Schwarz-Weiß zur Farbe,
  • vom Einfachen und Minimalen zum Differenzierten und Komplexen,
  • vom Natürlichen zum Konstruierten,
  • vom Foto zum Pinselstrich,
  • vom Pinselstrich zum Pixel
sind lange Wege zurückzulegen.

 

Alle Gattungen des Kunstschaffens werden genutzt, um das Thema ins Bild, das Bild in den thematischen Rahmen zu bringen.

 

Über 3.000 (photo)grafische Meisterwerke aus 60 Jahren wurden in die Gesamtausstellung integriert. Auch wenn an den verschiedenen Ausstellungsorten aus Platzgründen nur ein Ausschnitt gezeigt wird, rate ich Ihnen: Nehmen Sie sich Zeit, dann werden Sie viel über die Welt und ihre Dynamik erfahren — mehr aber noch über sich selbst, ihr inneres und äußeres Wahrnehmungsvermögen, Ihre Fähigkeit, die Coolness des Alltags zu überwinden. Fragen Sie sich kritisch: Was haben die Bilder mit mir zu tun ? Was erinnere ich ? Womit kann ich etwas anfangen und auch, womit nicht ?

 

Zum Schluss ein Zitat von Rudolf Augstein (1923 - 2002), dem DER SPIEGEL viel, die Bundesrepublik Deutschland noch mehr zu verdanken hat:

 

"Ein Titelbild ist das Einfallstor für zu eroberndes Gelände. Komplizierte Zusammenhänge so darzustellen, dass auch mit Einzelheiten unvertraute Leser sie verstehen können, ist für jeden Journalisten oft schwieriges Handwerk. Die spontane Aufmerksamkeit des unvorbereiteten Lesers aber im sprichwörtlich ‘ersten Augenblick‘ auf die neue Nachricht, auf das Thema der Woche zu lenken, das ist die Kunst der Titelmacher." (2000)

 

Von den "Titelmachern" in Hamburg, insbesondere von dem Leiter der Titel-Redaktion, Stefan Kiefer, soll ich herzlich grüßen.

 

Ich bin ein wenig stolz, dass das, was an der Universität in Lüneburg von meinen Studierenden und mir erdacht und entwickelt wurde, — im wahrsten Sinne des Wortes — "Kreise zieht". Eine Ausstellung wandert durch Deutschland — wir verstehen sie als eine auf- und erklärende Form politischer Bildung. Deshalb sind uns junge Besucher besonders wichtig. Wenn sie nebenbei auch dazu führt, den SPIEGEL regelmäßig in die Hand zu nehmen, soll‘s uns freuen.

 

Herzlich Willkommen also zur Ausstellungseröffnung !

 

Fotos: Lole

 

Links zur Zeitgeschichte im SPIEGELbild

 

http://www.stattzeitung.eu/story.php?;&story=118729377314563&kat=aktuell#

 

http://www.tr3ndz.de/index.php?option=com_rsgallery2&Itemid=44&catid=1189

Pressespiegel

Westpark zeigt 59 Jahre Zeitgeschichte im Spiegel

Spiegel-Ausstellung im Westpark

DK, 15.03.2007

Neuburger Rundschau, 14.03.2007